Ruth-Maria Gleißner: Der unpolitische Komponist als Politikum. Die Rezeption von Jean Sibelius im NS-Staat (= Europäische Hochschulschriften Reihe 36. Musikwissenschaft; 218). Peter Lang: Frankfurt am Main, 2002, 551 S.

 

Dr. Ursula Geisler

Die nationalsozialistische Rezeption Sibelius’ ist wohl in dieser qualifizierten Ausführlichkeit bisher nicht wissenschaftlich dargestellt worden. Der Anspruch Gleißners war dabei kein geringerer, als „den Mechanismus auf[zu]zeigen, durch den Sibelius und seine Musik (...) zum propagandistischen Werkzeug in der Hand der Nationalsozialisten werden konnten, ohne daß der Komponist selbst aktiv dazu beitrug.“ (21) Schade, daß die Formulierung „Mechanismus“ suggeriert, daß es eine einheitliche Sibelius-Rezeption bzw. nationalsozialistische Musikästhetik in den 1930ern und 40ern gab – was Gleißner durch ihre Arbeit überzeugend und ausführlich widerlegt. Es war eben kein „Mechanismus“, der Sibelius und seiner Musik zu einer ungeheuren Popularität verhalf, bzw. zu nationalsozialistischen Versuchen, diese Popularität herzustellen. Im Gegenteil ließen ihn viele verschiedene Komponenten auf der Mikro- und Makroebene als prädestiniert für die Musikpropaganda erscheinen.

Meine größte Kritik zielt denn auch auf eine z. T. vorhandene sprachliche Ungenauigkeit, setzt sich die Autorin doch gerade mit den Konnotationen diverser Begrifflichkeiten konstruktiv auseinander. So vermeidet sie den Diskursbegriff gänzlich, dessen Anwendung sich für die Passagen über die wissenschaftlichen Musikanschauungen als hilfreich hätte erweisen können. Dort z.B., wo es um die Differenzierung spezifischer Termini wie „nordisch“ und „nordeuropäisch“ oder „finnisch“ und „finnländisch“ geht.

Auf der Positivseite stehen nicht nur ihre eingebrachte Materialfülle, die überwiegende Quellengenauigkeit sowie eine angenehme Zurückhaltung bei spezifischen Bewertungen, sondern auch und gerade ihre gelungene Einbettung der Sibelius-Rezeption in NS-Theorien über „nordische“ Musik. Hier liegt einer der hauptsächlichen, von der kulturwissenschaftlich orientierten Musikforschung noch wenig untersuchten Aspekte nationalsozialistischer Instrumentalisierung nordeuropäischer Komponisten wie auch Musikerinnen und Musiker. Die kritische Retrospektive was Musikanschauungen des 19. Jahrhunderts betrifft, persönliche Analysen sowie ein Vergleich der Sibelius-Rezeption mit derjenigen anderer Komponisten wie Respighi oder Kodály runden das Bild ab. Auch traut sich Gleißner, sachliche Kritik an einigen Thesen Adornos und Levis zu üben. Damit entgeht sie der von Krummacher skizzierten Gefahr des „haltlosen Relativismus“ oder der „Potenzierung des Positivismus“, wenn sie in ihrer Rezeptionsgeschichte auf die Werkanalyse verzichtet (Krummacher, 1996, 234ff.).

Durch ihren übergreifenden Zeitrahmen verweilt die Autorin nicht bei einer spezifischen historischen Situation, sondern bettet die Sibelius-Rezeption in einen größeren Kontext ein. Der Titel schränkt daher den Blickwinkel unnötig ein, da sich fast ¼ der Arbeit nicht mit der NS-Zeit beschäftigt, sondern als notwendiges Korrelat zur NS-Rezeption auch die Nachkriegszeit bis in die 1990er Jahre behandelt. Dies sind die spannenden Aspekte: wie und warum änderte bzw. änderte sich eben nicht die Sichtweise auf Sibelius nach der Erfahrung der nationalsozialistischen Funktionalisierung und Instrumentalisierung?! Welche Faktoren führten zu einer länger anhaltenden deutschen Sibelius-Rezeption als sie z.B. für Yrjö Kilpinen oder Armas Järnefeldt konstatiert werden kann. Ihnen wurde in der NS-Zeit ebenfalls als „nordischen“ bzw. „nordeuropäischen“ zeitgenössischen Komponisten viel Aufmerksamkeit entgegengebracht, ohne daß sich ihr Erfolg mit dem Sibelius’ oder Griegs auf Dauer vergleichen ließe.

Da Gleißner ihre Arbeit als „musikwissenschaftliche Betätigung im Bereich der historisch-politischen Rezeptionsforschung“ (21) verstanden wissen will, begibt sie sich in das Überschneidungsgebiet der Disziplinen. Sich mit der Rezeption eines spezifischen Komponisten auseinandersetzen heißt gleichzeitig, sich auf die Prämisse einzulassen, spezifischen Individuen einen besonderen Status zuzugestehen, der wissenschaftlich auch als solcher berücksichtigt werden sollte., ist auch die Folge der Genialisierung einzelner Künstlerpersönlichkeiten der romantischen Rezeption des 19. Jahrhunderts. Auch die Musikwissenschaften haben in ihrer methodologischen und theoretischen Ausrichtung dazu beigetragen, daß gerade Komponisten dieser Status selbstverständlicher als anderen zugestanden wird, was in die Arbeit als selbstreflexive Positionsbeschreibung hätte mit einfließen können.

Ein verstärktes Einbeziehen des diskursiven Verhältnisses der Konstrukte „Volksmusik“ und „Kunstmusik“ hätte außerdem für die Gesamteinschätzung der Sibelius-Rezeption erhellend sein können. Die nationalsozialistischen Vorstellungen darüber, was „das deutsche Volk“ hören bzw. selbst „lebendig“ musikalisch erfahren sollte, ist mit dieser Dichotomie eng verknüpft. Wenn Sibelius also als musikalischer Repräsentant auch des finnischen Volkes rezipiert wurde, dann ist das ein großer Unterschied zu einer Rezeption, die die Modernität seiner kunstmusikalischen Form betont. Wenn er in beide Kategorien ohne Probleme eingepaßt werden konnte, so sagt das weniger etwas über Sibelius’ Musik aus, als über die Möglichkeit der Rezeption, der Musik und dessen Komponisten die unterschiedlichsten Funktionen und Inhalte zuzuschreiben. „Finnisch“ und „modern“ sind dann nur Schlagworte, die eher die Position der Urheber der Aussage kennzeichnen, als die Musik selbst. Gleißner weist zurecht darauf hin, daß zwischen nationalsozialistischem Wollen und dem jeweils erzielten Ergebnis eine z.T. unüberwindbare Diskrepanz lag, die nicht zuletzt in der grundsätzlichen Verschiedenheit des Musikhörens und ‑rezipierens zu suchen sind.

Trotzdem halte ich ihre These „vermutlich definierten die NS-Musikpolitiker auch die ‚nationale’ Tonkunst ex negativo, indem sie alles, was nicht ‚international’, das heißt jüdisch, atonal oder sonstwie unerwünscht war, als ‚national’ betrachteten“ (102) für unzureichend. Das besonders perfide an nationalsozialistischen Musikvorstellungen war ja gerade, daß sie unter dem Deckmantel der Wissenschaftlichkeit und durchaus mit logischen Ausschlüssen zu neuen bzw. erneuerten Definitionen vorstießen. Für den Begriff „national“ reicht es teilweise, eine Bezeichnung wie „deutsch“ einzusetzen, um die zahlreichen Definitionsversuche kenntlich zu machen. Das Spezifische nationalsozialistischer Musikauffassung waren zwar auch die Versuche, mit Hilfe außermusikalischer Begründungstopoi beispielsweise „deutsche“ und „nordische“ Musik gleichzusetzen bzw. als gleichwertig erscheinen zu lassen (Seifert, 1940, 79f.), das schließt aber nicht aus, daß diesen Begründungen teilweise eine formale Musikauffassung zugrunde lag. Auch im jüngsten Diskurs hat es durchaus Ansätze gegeben, das, was an Sibelius’ musikalischer Form in einer spezifischen Zeit als „finnisch“ rezipiert werden konnte, genauer festzulegen (Dahlstedt, 1999, 21ff.). Das soll – wie Gleißner mit Recht feststellt – nicht darüber hinwegtäuschen, daß das musikalisch „Nationale“ kein Substanz-, sondern ein Funktions-Begriff ist.

Insgesamt betrachtet ein lesenswertes Buch, daß unabdingbar in die von Huttunen geforderte vergleichende Sibelius-Forschung (Mäkelä, 1992, 217) gehört und sich aufgrund seines Ansatzes auch anderen empfiehlt, die sich mit der Rezeption einzelner Komponisten auseinandersetzen.

 

Literatur:

 

Barbro Kvist Dahlstedt 1999: „Nationell hängivenhet. Sibelius Kareliamusik och den västeuropeiska identiteten i 1890-talets Finland“. In: Nationell hängivenhet och europeisk klarhet. Aspekter på den europeiska identiteten kring sekelskiftet 1900. Stockholm: Brutus Östlings Bokförslag, 1999, 15-75.

 

Matti Huttunen 1997: “Nationalistic and Non-Nationalistic Views of Sibelius in the 20th-century Finnish Music Historiography”. In: Tomi Mäkelä (Hg.): Music and Nationalism in 20th-century Great Britain and Finland. Hamburg: von Bockel Verlag, 1997, 217-243.

 

Krummacher, Friedhelm 1996: Musik im Norden. Abhandlungen zur skandinavischen und norddeutschen Musikgeschichte. Kassel u.a.: Bärenreiter.

 

Seifert, Adolf 1940: Volkslied und Rasse. Ein Beitrag zur Rassenkunde. Reichenberg–Berlin: Ullmann und Vieweg.